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Anonyme Schockanrufe: Opfer am Telefon
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Selbst Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei sind schon Opfer von sogenannten Schockanrufen geworden.
Streife Redaktion

Wenn nachts das Telefon klingelt, bedeutet das meistens nichts Gutes. Das war auch der erste Gedanke von Sabine Coenen-Kolberg, als sie gegen halb vier von ihrem Handy aus dem Schlaf gerissen wird. Eine weinende junge Frau berichtet von einem Autounfall, den sie verursacht habe. „Ich war mir sicher, dass es sich dabei um meine Tochter handelte, die zu diesem Zeitpunkt auch noch schwanger war“, erzählt Coenen-Kolberg, die im Vorzimmer des Leiters des LKA Düsseldorf Ingo Wünsch als Assistentin arbeitet. Nach wenigen Minuten übernimmt eine andere Frau das Gespräch, sie stellt sich als Mitarbeiterin der Nachtwache des Amtsgerichts Düsseldorf vor. Die Horror-Nachricht: Coenen-Kolbergs Tochter sitze dort angeblich wegen Fahrerflucht in Untersuchungshaft.

Die LKA-Mitarbeiterin, seit 22 Jahren bei der Polizei, weiß im Rückblick genau, welche Fragen sie sich spätestens an dieser Stelle hätte stellen müssen: Macht die ganze Sache tatsächlich Sinn? Passt bei der kruden Geschichte überhaupt irgendetwas zusammen? „Ich hatte in dem Moment aber nur ein Ziel: Ich wollte meine Tochter wiederhaben, ich wollte sie da rausholen. Da hat der gesunde Menschenverstand schlicht eine Pause eingelegt, die Sorge um das eigene Kind überlagerte alles.“

Zur Nachtzeit werden teils horrende Summen gefordert

Plötzlich ist von 62.000 Euro Kaution die Rede, die die Mutter für ihre Tochter aufbringen soll. Sabine Coenen-Kolberg weckt ihren Ehemann, der Polizeibeamter im Ruhestand ist. Er hört sich die Geschichte an, hinterfragt die angebliche Beamtin – und legt nach einiger Zeit auf. „Ich habe ihn angeschrien, wie er das nur tun könne.“ Schließlich klärt ein Anruf bei der (selig schlummernden) Tochter alles auf.

Das Beispiel der langjährigen LKA-Beschäftigten zeigt: So gut wie jede und jeder kann Opfer eines Telefonbetrugs mittels Schockanruf werden. Diese perfide Masche übertrifft in ihrer Boshaftigkeit ohne Frage den bekannten „Enkeltrick“, dem vor allem ältere Menschen zum Opfer fallen.

Weil die Betrügerinnen und Betrüger ihre Tricks perfektioniert haben, fallen mittlerweile immer mehr jüngere Menschen darauf herein. Diese Entwicklung spiegelt sich in den Zahlen wider. So ist die erfasste Schadenssumme durch Schockanrufe zuletzt extrem angestiegen: Lag sie in NRW 2019 „nur“ bei rund 3,4 Millionen Euro, waren es 2023 bereits mehr als 14,6 Millionen Euro. Deutschlandweit dürften laut Experten sogar mehr als 100 Millionen Euro verschwunden sein. „Nicht selten werden den Betroffenen sechsstellige Summen gestohlen“, unterstreicht Deborah Buschendorf vom Sachgebiet 32.1 (Kriminalprävention und Opferschutz) des LKA. 

Hohe Dunkelziffer und große Scham, dass man auf die perfide Masche hereingefallen ist

Die Dunkelziffer ist sehr hoch, der tatsächlichen Schaden dürfte noch viel höher liegen. Viele Fälle werden aus Angst, Scham, Selbstzweifel oder anderen Gründen gar nicht bei der Polizei angezeigt. Schließlich verlieren die Betroffenen häufig mehr als Geld und Schmuck. Buschendorf: „Das Urvertrauen in Menschen ist weg. Psychologische Erkrankungen sind keine Seltenheit, gar Selbsttötungen als Folge einer solch einschneidenden Erfahrung sind schon vorgekommen.

Die Kriminellen bauen Schockszenarien auf und das Opfer gerät extrem unter Druck

Häufig wird bei den Anrufen die vermeintliche Gefahr für Leib und Leben von Angehörigen vorgetäuscht. Zum Beispiel geht es um eine Notoperation im Ausland, für die sofort Geld überwiesen werden müsse, weil der Angehörige sonst sterbe. „Das sind diese Schockszenarien, die die Opfer natürlich besonders umtreiben und zu Handlungen veranlassen, die mitunter nicht erklärbar sind“, betont die Kriminalhauptkommissarin.

Doch wie schützt man sich? 

Mit den Angehörigen für solche Fälle gemeinsam auf Losungen einigen oder Zettel als Merker ans Telefon kleben

Ein Anruf bei der oder dem vermeintlich Betroffenen kann die Sachlage natürlich schnell klären. „Das hilft in den allermeisten Fällen“, weiß Deborah Buschendorf. „Aber es ist häufig schwierig, weil bei vielen Menschen das Adrenalin einschießt, sie sich im Tunnel befinden, sie nicht mehr rechts und links denken können.“ Zudem könne man sich vorab in der Familie auf ein Passwort einigen, das im Fall der Fälle abgefragt bzw. genannt werden muss. Den entscheidenden Anstoß, noch mal kurz bei einem verdächtigen Anruf innezuhalten, kann nach ihren Worten auch ein einfacher Zettel liefern. Ein kleines Schild neben dem Telefon, auf dem schlicht das Wort „Schockanruf“ steht. Eine Parole, die die Sinne schärft.

Sabine Coenen-Kolberg findet alle diese Ideen gut und wichtig. Aber sie sagt auch: „Es kann sich kaum jemand vorstellen, was so ein Anruf in einem auslöst, der es noch nicht selbst erlebt hat. Immer wieder habe ich meine Mutter, Bekannte, Freunde vor derartigen Kriminellen gewarnt. Und dann falle ich beinahe doch selbst darauf rein.“

 

In dringenden Fällen: Polizeinotruf 110